1 »Maria kann die Zweitgeborene des Vaters genannt werden«

Jesus trägt mir auf: »Nimm ein ganz neues Heft und kopiere auf das erste Blatt das Diktat vom 16. August. Dieses Buch wird von Ihr handeln.«

Ich gehorche und kopiere (22. August 1944).

Jesus sagt:

»Heute schreibe nur dies! Die Reinheit hat einen solchen Wert, dass der Schoß einer Frau den Unerfaßbaren nur umfassen konnte, weil sie die höchste Reinheit besaß, die ein Geschöpf Gottes haben kann.

Die Allerheiligste Dreifaltigkeit stieg mit ihren Vollkommenheiten herab, wohnte mit ihrem unendlichen Sein in einem kleinen Raum –

ohne dadurch von ihrer Unendlichkeit zu verlieren – und offenbarte sich mit ihren charakteristischen Eigenschaften: Der Vater wiederum als Schöpfer, wie am sechsten Tage. Er schuf eine wahre „Tochter“, seiner würdig und ihm ähnlich. Der Stempel Gottes war in Maria eingeprägt, so klar und scharf, dass er nur im Erstgeborenen des Vaters [Röm 8,29] vollkommener war. Maria kann die „Zweitgeborene“ des Vaters genannt werden, weil sie wegen der verliehenen und bewusst bewahrten Vollkommenheit, wegen der Würde als Braut und Mutter Gottes und als Königin des Himmels die Zweite nach dem Sohn des Vaters ist; die Zweite im ewigen Gedanken des Vaters, der von Ewigkeit her an ihr Wohlgefallen fand.

Der Sohn, der auch für sie „der Sohn“ war, lehrte sie – durch den geheimnisvollen Eingriff der Gnade – seine Wahrheit und Weisheit,

als er noch ein Keim war, der in ihrem Schoß heranwuchs.

Der Heilige Geist erscheint den Menschen in einem vorweggenommenen, verlängerten Pfingstfest als Liebe in „der, die er liebte“; als Trost durch die Frucht ihres Schoßes; als Heiligung durch die Mutterschaft des Heiligen.

Um sich den Menschen in einer neuen und vollkommenen Weise zu offenbaren, welche das Zeitalter der Erlösung einleitet, wählte Gott nicht einen Stern des Himmels zu seinem Thron oder den Palast eines mächtigen Herrschers; auch nahm er nicht die Flügel der Engel zum Schemel seiner Füße. Vielmehr wollte er einen Schoß ohne Makel.

Auch Eva war ohne Makel erschaffen worden; aber sie hat sich aus freiem Willen verderben wollen. Maria, die in einer zerrütteten Welt lebte – während Eva von einer reinen umgeben war – wollte ihre Reinheit nicht einmal durch einen Gedanken an die Sünde beeinträchtigen. Sie wußte, dass die Sünde existiert. Sie sah ihre vielfältigen, schrecklichen Gesichter. Sie sah sie alle, auch das grauenhafteste: den Gottesmord. Aber sie lernte sie kennen, um für sie zu sühnen und in alle Ewigkeit die zu sein, die Erbarmen mit den Sündern hat und für ihre Rettung betet.

Dieser Gedanke ist eine Einleitung zu anderen heiligen Dingen, die ich dir und vielen anderen zum Trost mitteilen werde.«

2 Joachim und Anna machen dem Herrn ein Gelübde

Ich sehe das Innere eines Hauses. Dort sitzt eine bejahrte Frau an einem Webstuhl. Nach ihrem sicherlich einst schwarzen, nun aber schon ergrauten Haar und ihrem Gesicht, dass noch nicht gerunzelt, aber doch durch den Ernst der Jahre geprägt ist, möchte ich schätzen, dass sie 50–55 Jahre alt ist. Nicht älter.

Bei der Bestimmung dieses Alters nehme ich das Gesicht meiner Mutter zum Vergleich, dass mir besonders in diesen Tagen, die mich an ihre letzten Tage an meinem Bett erinnern, gegenwärtig ist . . . Das Gesicht meiner Mutter war unter den frühzeitig weiß gewordenen Haaren sehr jugendlich. Im Alter von fünfzig Jahren war sie weiß und schwarz wie am Ende ihres Lebens. Aber, abgesehen von der Reife ihres Blickes, verriet nichts ihre Jahre. Ich könnte mich daher irren, wenn ich älteren Frauen eine bestimmte Anzahl von Jahren gebe.

Die Frau, die ich in einem hellerleuchteten Raum weben sehe, ist schön in ihren typisch hebräischen Gesichtszügen. Die halbgeöffnete Tür läßt den Blick über einen großen Garten schweifen, den ich aufgrund seiner Ausdehnung eher als ein kleines Gut bezeichnen möchte, dass sich über ein welliges Gelände dahinzieht. Die tiefen, schwarzen Augen der Frau erinnern mich – ich weiß nicht warum – an jene Johannes des Täufers. Sie sind stolz wie die einer Königin, aber zugleich auch sanft, als wäre über ihr adlerhaftes Aufblitzen ein himmelblauer Schleier gebreitet worden. Sanft und zugleich ein wenig traurig, wie wenn jemand trübsinnig verlorener Dinge gedenkt.

Die Gesichtsfarbe ist bräunlich, aber nicht übermäßig. Der Mund, ein klein wenig breit, ist schön geformt und hat einen ernsten, aber nicht harten Zug. Die Nase ist lang und fein, leicht nach unten gebogen.

Eine Adlernase, die gut zu diesen Augen paßt. Die Frau ist kräftig, aber nicht dick, gut gebaut und, nach ihrer sitzenden Haltung zu schätzen, ziemlich groß.

Ich glaube, sie webt ein Zelttuch oder einen Teppich. Die vielfarbigen Spulen eilen schnell über den dunkelbraunen Webstuhl, und das fertige Stück Tuch zeigt eine Verschlingung von Verzierungen und Rosetten, in denen grün, gelb, rot und dunkelblau sich verflechten und vermischen wie in einem Mosaik. Die Frau trägt ein ganz einfaches, tiefdunkles Gewand, dessen Violettrot an gewisse Stiefmütterchen erinnert.

Auf ein Pochen an der Tür erhebt sie sich. Sie ist wirklich groß.

Vor der Tür steht eine Frau, die fragt: »Anna, willst du mir deinen Krug geben? Ich werde ihn für dich füllen.«

Die Frau hat einen lebhaften Jungen von fünf Jahren bei sich, der sich sofort an das Kleid der genannten Anna schmiegt. Sie liebkost ihn, während sie in einen anderen Raum geht, und kommt mit einem schönen kupfernen Krug zurück, den sie der Frau mit den Worten gibt: »Immer bist du gut zu deiner alten Anna. Gott vergelte es dir an diesem Kind und an den Söhnen, die du hast und haben wirst, du Glückliche!« Anna seufzt. Die Frau schaut sie an und weiß nicht, was sie zu diesem Seufzer sagen soll. Um sie von dem Kummer, der sie offenbar bedrückt, abzulenken, sagt sie: »Ich lasse Alphäus hier, wenn er dir nicht lästig ist; so geht es schneller, und ich kann dir viele Krüge und Schläuche füllen.«

Alphäus freut sich, dass er bleiben darf, und der Grund ist verständlich.

Kaum ist die Mutter fort, da nimmt ihn Anna auf ihre Schultern und geht mit ihm in den Garten hinaus. Sie hebt ihn hoch in einem Laubengang, von dem goldgelbe Weintrauben herabhängen, und sagt: »Iß, iß, die sind gut!« Und sie küßt ihn auf das vom Saft der Früchte klebrige Gesichtchen, während das Kind eifrig Beere um Beere verspeist. Dann lacht sie vor Freude und scheint gleich jünger mit den schönen Zähnen, die zum Vorschein kommen, und der Freude, die das Gesicht überstrahlt, als das Kind noch sagt: »Und was gibst du mir jetzt?« und sie dabei mit großen, graublauen Augen anschaut. »Was gibst du mir, wenn ich dir, wenn ich dir gebe . . . na, rate was!« Und das Kind klatscht in die Hände und sagt lachend: »Küsse, Küsse gebe ich dir, schöne Anna, gute Anna, Mama Anna . . . « Anna hört sich Mama nennen, drückt mit einem Freudenschrei den Kleinen an sich und sagt: »Oh, mein Schatz! Liebling, Liebling!« Bei jedem „Liebling“ küßt sie die rosigen Wangen. Dann gehen sie zu einem Schränkchen, und sie nimmt von einem Teller etwas Honigkuchen. »Ich habe ihn für dich gebacken, du Freude der armen Anna, weil du mich so gern hast. Aber sage mir, wie sehr liebst du mich?« Der Junge erinnert sich an das, was ihn in seinem bisherigen Leben am meisten beeindruckt hat, und sagt: »Wie den Tempel des Herrn.« Anna küßt ihn noch einmal auf die lebhaften Äuglein, auf das rosige Mündchen, und das Kind schmiegt sich an sie wie ein Kätzchen.

Die Mutter kommt und geht mit dem Krug und lacht, ohne dabei etwas zu sagen. Sie überläßt die beiden ihren Zärtlichkeiten.

Da kommt vom Garten her ein alter Mann, etwas kleiner als Anna, mit vollem, schneeweißem Haar. Er hat ein helles Gesicht mit einem viereckig geschnittenen Bart und zwei türkisblauen Augen unter den hellbraunen, fast blonden Augenbrauen. Ein dunkelbraunes Gewand kleidet ihn.

Anna sieht ihn nicht, denn sie steht mit dem Rücken gegen den Ausgang. Er geht auf sie zu und spricht: »Und für mich nichts?« Anna wendet sich um und sagt: »Oh, Joachim, bist du mit deiner Arbeit fertig?« Gleichzeitig schmiegt sich der kleine Alphäus an Joachims Knie und sagt: »Auch für dich, auch für dich.« Joachim beugt sich zu ihm nieder. Das Kind wühlt in dem weißen Bart und gibt ihm einen schallenden Kuß.

Auch Joachim hat ein Geschenk für Alphäus . . . Er hielt es bisher in der linken Hand hinter dem Rücken; nun aber zeigt er den wunderschönen Apfel, der wie gemalt aussieht, und sagt lachend zum Kind, dass erwartungsvoll die Händchen danach ausstreckt: »Warte, ich schneide ihn dir in Stücke. So kannst du ihn nicht essen; er ist ja fast größer als du.« Und mit einem Messerchen, dass er sonst zum Beschneiden der Bäume und der Blumensträucher benützt, zerteilt er den Apfel in kleine Scheiben, die er mit großer Sorgfalt in den kleinen Mund steckt, als hätte er es mit einem noch im Nest sitzenden Vögelchen zu tun.

»Sieh doch die Augen, Joachim! Sind sie nicht wie zwei Stückchen des galiläischen Meeres, wenn der Abendwind einen Wolkenschleier über den Himmel webt?« Bei diesen Worten legt Anna eine Hand auf Joachims Schulter und lehnt sich leicht an ihn: eine Haltung, die eine tiefe Gattenliebe bekundet; eine nach so langen Ehejahren ungetrübte Liebe.

Joachim schaut sie liebevoll an und nickt, indem er sagt: »Sehr schön sind sie! Und diese Löckchen? Haben sie nicht die Farbe des Heus, wenn es die Sonne getrocknet hat? Schau: ein Gemisch von Gold und Kupfer.«

»Ach, wenn wir ein Kind gehabt hätten: so hätte ich es mir gewünscht; mit diesen Augen und diesen Haaren . . . « Anna hat sich niedergebeugt, ja niedergekniet, und küßt mit einem schweren Seufzer die beiden großen blaugrauen Augen.

Auch Joachim seufzt. Aber er will sie trösten, legt ihr eine Hand auf die krausen, weißen Haare und sagt: »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Gott ist allmächtig. Solange man lebt, kann dasWunder jederzeit stattfinden; besonders wenn man ihn liebt und sich gegenseitig liebt.« Joachim betont diese letzten Worte.

Anna aber schweigt niedergeschlagen und hat das Haupt geneigt, um die beiden Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen herunterrollen; nur der kleine Alphäus bemerkt sie und ist erstaunt und betrübt, dass seine große Freundin weint wie er selbst manchmal. Er hebt ein Händchen und wischt die Tränen ab. »Weine nicht, Anna!«

tröstet sie Joachim. »Wir sind auch so glücklich. Ich wenigstens bin es, weil ich dich besitze.«

»Auch ich bin glücklich, weil ich dich habe. Aber ich habe dir keinen Sohn geschenkt . . . Vielleicht habe ich dem Herrn in etwas mißfallen, da er mir den Schoß verschlossen hat . . . «

»Oh, meine Gattin! Worin solltest du ihm mißfallen haben, du Heilige?

Höre! Gehen wir für dieses unser Anliegen noch einmal zum Tempel! Nicht nur wegen des Laubhüttenfestes [Ex 23,14–17]. Beten wir lange! . . . Vielleicht ergeht es dir wie Sara . . . wie Hanna, der Frau des Elkana. Lange haben sie gewartet und haben geglaubt, sie seien verworfen, weil sie kinderlos blieben. Statt dessen reifte für sie im Himmel Gottes ein heiliges Kind [1 Kön 1; 2,11]. Lächle, meine Gattin! Dein Weinen schmerzt mich mehr als die Kinderlosigkeit . . .

Wir werden Alphäus mit uns nehmen und ihn beten lassen; ihn, der unschuldig ist . . . und Gott wird sein Gebet und unser Gebet annehmen und erhören.«

»Ja, machen wir dem Herrn ein Gelübde. Ihm soll das Kind gehören, wenn er es uns gibt . . . Ach, könnte ich mich doch „Mama“

rufen hören!«

Da sagt Alphäus, der erstaunte und unschuldige Zuschauer: »Ich nenne dich doch so!«

»Ja, meine liebe Freude . . . «

Hier endet die Vision.

Ich begreife, dass der Zyklus der Geburt Marias begonnen hat. Und ich bin sehr erfreut darüber, denn ich habe diese so sehr ersehnt. Ich denke, dass auch Sie zufrieden sein werden (In diesem Satz, wie an anderen Stellen dieses Buches, wendet sich die Verfasserin an ihren Seelenführer).

Bevor ich zu schreiben begann, hörte ich die Mutter sagen: »Tochter, schreibe jetzt von mir! Für alle deine Leiden wirst du Trost empfangen.« Und während sie mir dies sagte, legte sie mir die Hand aufs Haupt und streichelte mich zärtlich; dann kam die Vision. Anfangs aber, solange ich die Fünfzigjährige nicht mit Namen rufen hörte, wußte ich nicht, dass ich die Mutter der Mutter vor mir hatte und dass die Gnade ihrer Geburt bevorstand.

3 Das Gebet Annas im Tempel wird erhört

Bevor ich fortfahre, sei folgende Bemerkung gemacht.

Das Haus schien mir nicht das mir wohlbekannte von Nazaret zu sein; wenigstens war die Umgebung eine ganz andere. Auch war der Gemüse- und Blumengarten viel größer, und Felder waren in der Ferne sichtbar. Nicht viele, aber immerhin etliche. Später, nach der Vermählung Marias ist nur mehr ein Gemüsegarten da, und das Zimmer, dass ich in dieser Vision sah, habe ich in den folgenden niemals wiedergesehen. Ich weiß nicht, wie ich mir das erklären soll; ob sich die Eltern Marias aus finanziellen Gründen eines Teiles ihrer Habe entledigten oder ob Maria nach dem Verlassen des Tempels in ein anderes Haus kam, dass ihr vielleicht von Josef gegeben wurde. Ich erinnere mich nicht, ob sich in den früheren Visionen und Lehrstücken ein sicherer Anhaltspunkt dafür findet, dass das Haus von Nazaret ihr Geburtshaus gewesen ist. Mein Kopf ist sehr müde. Ferner vergesse ich, besonders was die Diktate angeht, sofort die Worte, während mir die Aufträge und das Licht in der Seele eingeprägt bleiben. Aber Einzelheiten verflüchtigen sich unmittelbar.

Wenn ich nach einer Stunde wiederholen sollte, was ich gehört habe, wüßte ich nichts mehr, abgesehen von ein oder zwei Hauptgedanken. Die Visionen hingegen bleiben mir lebendig im Gedächtnis, weil ich bei ihnen selbst beobachten muss. Die Diktate schreibe ich einfach nieder. Jene hingegen muss ich in mich aufnehmen. Sie bleiben in mir lebendig, weil ich selbst auf alle Einzelheiten habe achten müssen.

Ich hoffte, es würde ein Diktat über die gestrige Vision kommen. Aber nein. Nun beginne ich zu schauen und schreibe.

Außerhalb der Mauern von Jerusalem auf den Hügeln und zwischen den Ölbäumen hat sich eine große Menschenmenge niedergelassen. Es scheint ein riesiger Marktplatz zu sein. Aber man sieht keine Tische und Buden. Auch hört man nicht die Stimmen von Marktschreiern und Verkäufern. Keine Spiele. Es sind da sehr viele Zelte aus rauher, sicher wasserundurchlässiger Leinwand, die über Pfähle, die im Boden befestigt sind, gezogen ist. Von den Pfählen hängen grüne Zweige herab, die zur Zierde und zur Erfrischung dienen. Andere Zelte bestehen ganz aus Zweigen, die im Boden befestigt wurden und so miteinander verbunden sind, dass sie kleine, grüne Lauben bilden. Unter jedem dieser Zelte befinden sich Menschen jedes Alters und jedes Standes. Ihre Gespräche sind friedvoll und gesammelt, höchstens von einem Kinderschrei unterbrochen.

Die Nacht bricht herein, und schon leuchten da und dort, in diesem eigenartigen Lager, Öllaternen auf. Um diese Lichter versammelt nehmen einige Familien ihre Abendmahlzeit ein; man sitzt auf dem Boden, die Mütter mit ihren Kleinen auf dem Schoße. Viele Kinder schlafen ermüdet ein, oft noch ein Stück Brot zwischen den rosigen Fingerchen, und lassen ihre Köpfchen auf die Brust der Mutter sinken, wie Kücken unter der Henne. Die Mütter beenden ihre Mahlzeit, so gut sie es können, mit der freien Hand, während die andere das Kind an ihr Herz drückt. Andere Familien hingegen sind noch nicht bei der Mahlzeit. Man spricht im Halbdunkel miteinander und wartet darauf, dass das Essen bereit sei. Kleine Feuer brennen hier und dort, und um sie herum sind die Frauen beschäftigt. Ein Wiegenlied, langsam, fast klagend gesungen, wiegt ein noch unruhiges Kind in den Schlaf.

Oben in der Höhe ein schöner, heiterer Himmel, der immer dunkelblauer wird, bis er einem gewaltigen Theaterzeltdach aus weichem, schwarzblauem Samt gleicht, auf dem unsichtbare Künstler und Dekorateure ganz allmählich Perlen und Lichter erscheinen lassen; einige einzeln, andere in bizarren, geometrischen Gebilden, unter denen der große und der kleine Bär mit ihren Wagenformen hervorstechen, die Wagenstangen auf dem Boden aufgestützt und die Zugtiere ausgespannt. Der Polarstern strahlt in vollem Glanz.

Ich erfahre, dass es Oktober ist, denn eine kräftige Männerstimme sagt: »Der heurige Oktober ist von einer seltenen Schönheit!«

Sieh da, Anna kommt von einem Feuer. Sie trägt verschiedene Dinge auf einem breiten, flachen Brotfladen, der ihr als Teller dient.

An ihren Kleidern hängt Alphäus, dessen Kinderstimmchen hörbar ist. Joachim beeilt sich, die Laterne anzuzünden, als er Anna sieht.

Er hatte auf der Schwelle seiner kleinen Laubhütte mit einem dreißigjährigen Mann gesprochen, den Alphäus von weitem mit einem Schrei als Papa begrüßt hat.

Anna schreitet in fürstlichem Gang durch die Reihen der Zelthütten.

Fürstlich und doch bescheiden. Sie sieht auf niemanden stolz herab. Sie richtet den Kleinen einer armen, sehr armen Frau auf, der ihr gerade vor die Füße gefallen ist, als er bei seinem hastigen Laufen stolperte; und da er sich das Gesichtchen beschmutzt hat und weint, reinigt und tröstet sie ihn und übergibt ihn der herbeieilenden Mutter mit den Worten: »Oh, es ist nichts! Ich freue mich, dass er sich nicht weh getan hat. Welch ein schönes Kind! Wie alt ist es?«

»Drei Jahre. Er ist das Zweitjüngste; aber in Kürze werde ich noch ein Kind bekommen. Jetzt habe ich sechs Knaben und deshalb hätte ich gerne ein Mädchen . . . Für eine Mutter bedeutet ein Mädchen viel . . . «

»Der Allerhöchste hat dich sehr beschenkt, Frau!« Anna seufzt.

Die andere: »Ja, ich bin arm, aber die Kinder sind unsere Freude, und die größeren helfen schon bei der Arbeit mit. Und du, Herrin (daß Anna aus vornehmen Kreisen kommt, erkennt die Frau an ihrem ganzen Benehmen), wie viele Kinder hast du?«

»Keine«

»Keine?! Ist das nicht das deinige?«

»Nein, es gehört einer braven Nachbarin; es ist mein Trost . . . «

»Sind sie dir gestorben, oder . . . «

»Ich habe nie Kinder gehabt.«

»Oh!« Die arme Frau schaut sie mitleidig an. Anna grüßt sie mit einem tiefen Seufzer und geht zu ihrer Sippe.

»Ich habe auf mich warten lassen, Joachim. Eine arme Frau hat mich aufgehalten, eine Mutter von sechs Knaben, denke dir! Und in Bälde wird sie noch ein Kind bekommen.«

Joachim seufzt.

Der Vater von Alphäus ruft seinen Buben; aber dieser antwortet: »Ich bleibe bei Anna. Ich helfe ihr.« Alle lachen.

»Laß ihn nur! Er ist uns keine Last. Er ist noch nicht zur Einhaltung des Gesetzes verpflichtet. Hier oder dort. Er ist wie ein Vöglein, dass gefüttert wird«, sagt Anna und setzt sich nieder mit dem Kind auf dem Schoß. Sie gibt ihm Brotkuchen und, wie mir scheint, gerösteten Fisch. Ich sehe, dass sie letzteren zubereitet, bevor sie ihn ihm gibt. Vielleicht nimmt sie die Gräten heraus. Vorher hat sie ihren Gemahl bedient. Sie selbst ißt als letzte.

Die Nacht wird immer sternenklarer und die Lichter im Lager immer zahlreicher. Dann erlöschen allmählich viele Lichter. Es beginnt bei jenen, die zuerst ihr Abendbrot eingenommen haben und die jetzt schlafen gehen. Auch der Lärm schwindet langsam. Kinderstimmen sind nicht mehr zu hören. Nur der eine oder andere Säugling läßt sein Stimmchen vernehmen wie ein Lämmlein, dass nach der Muttermilch verlangt. Die Nacht breitet ihren Atem über Personen und Dinge und verwischt Mühen und Erinnerungen, Hoffnungen und Sorgen; aber vielleicht leben diese jetzt im Traum neu auf.

Während Anna Alphäus wiegt, der anfängt, auf ihren Armen einzuschlafen, sagt sie zu ihrem Gatten: »Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich im nächsten Jahr für zwei Feste in die heilige Stadt kommen werde, anstatt für eines allein. Und ein Fest wird die Opferung meines Kindes im Tempel sein . . . Oh! Joachim! . . . «

»Hoffe, hoffe, Anna! Hast du sonst nichts vernommen? Hat dir der Herr nichts ins Herz geflüstert?«

»Nichts. Es war nur ein Traum . . . «

»Morgen ist der letzte Gebetstag. Alle Opfer sind bereits dargebracht, aber wir werden die Gebete morgen nochmals feierlich wiederholen.

Wir wollen Gott überwältigen mit unserer treuen Liebe.

Ich denke immer, dir wird es wie der Hanna des Elkana ergehen.«

»So Gott will . . . und ich möchte auch jemandem begegnen, der mir sagt: „Geh in Frieden! Der Gott Israels hat dir die Gnade gewährt, um die du ihn bittest!“«

»Wenn die Gnade kommt, wird dein Kind es dir sagen, wenn es sich das erste Mal in deinem Schoße regt. Es wird die Stimme der Unschuld sein, daher die Stimme Gottes.«

Jetzt schweigt das Lager in der Finsternis. Auch Anna bringt Alphäus in die Nachbarhütte zurück und legt ihn aufs Heu neben die kleinen Brüder, die bereits schlafen. Dann legt sie sich neben Joachim nieder, und auch ihr Lämpchen erlöscht. Eines der letzten Sternchen der Erde. Viel schöner leuchten die Sterne am Firmament, die über die Schlafenden wachen.

4 »Joachim hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau«

Jesus sagt:

»Die Gerechten sind immer weise, denn sie sind Freunde Gottes, leben in seiner Gemeinschaft und werden von ihm belehrt; von ihm, der die unendliche Weisheit ist. Meine Großeltern waren gerecht und besaßen daher die Weisheit. Sie konnten in Wahrheit sagen, wie es im Buch steht, welches das Lob der Weisheit singt: „Ich habe sie geliebt und gesucht von meiner frühesten Jugend an und habe beschlossen, sie mir zur Braut zu nehmen.“ [Weish 8,2]

Anna vom Stamm Aarons war die starke Frau, von der unser Vorfahr spricht [Spr 31,10–31], und Joachim vom Stamme des Königs David hat nicht so sehr Anmut und Reichtum gesucht als vielmehr die Tugend. Anna besaß eine große Tugend. Ja, alle Tugenden waren in ihr vereint, wie ein duftender Blumenstrauß, um etwas einziges, Schönes zu bilden: die Tugendhaftigkeit. Eine königliche Tugend, würdig, vor dem Thron Gottes zu stehen.

Joachim hatte sich daher zweimal mit der Weisheit vermählt, „indem er sie liebte mehr als jede andere“. Er hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau. Anna, die Tochter Aarons, hatte nichts anderes gewollt, als ihr Leben mit einem gerechten Mann zu teilen, in der Überzeugung, dass die Freude der Familie in der Rechtschaffenheit besteht. Und um ein Sinnbild der „starken Frau“ zu sein, fehlte ihr nur die Krone der Kinder, die der Ruhm der verheirateten Frau und die Rechtfertigung der Vermählung ist, von der Salomon spricht [Spr 17,6]. Auch zu ihrem Glück fehlten ihr nur diese Kinder, die Blüten des Baumes, der zu einem einzigen geworden ist mit seinem Nachbarbaum und von ihm den Reichtum jener neuen Früchte empfangen hat, in denen sich die Tugenden beider zu einer einzigen verbinden; denn von seiten des Gatten musste sie niemals eine Enttäuschung erleben.

Da sie nun alterte und seit vielen Jahren Joachims Gattin war, blieb sie für ihn dennoch immer „die Braut seiner Jugend, seine Freude, dass geliebte Reh, die schlanke Gazelle“ [Spr 5,18–19], deren Liebkosungen jedes Mal den Zauber des ersten Vermählungsabends hatten und voller Zärtlichkeit seine Liebe entzückten, indem sie ihn frisch erhielten wie eine Blume, die der Tau benetzt, und glühend wie das Feuer, dass immer von neuen genährt wird. In ihrer Betrübnis ob der Kinderlosigkeit richteten sie aneinander Worte des Trostes, in Gedanken und in den schweren Augenblicken. Die Stunde kam, und die ewige Weisheit, die sie im Leben unterwiesen hatte, erleuchtete sie nun in den nächtlichen Träumen. So erfuhren sie, dass der Morgenstern der Herrlichkeit aus ihnen hervorgehen sollte, nämlich die Heilige Maria, meine Mutter.

Wenn sie auch in ihrer Demut nicht daran dachten, so zitterten doch ihre hoffnungsvollen Herzen beim ersten Schall der göttlichen Verheißung. Schon liegt gewissheit in den Worten Joachims: „Hoffe, hoffe . . . wir werden Gott besiegen durch unsere treue Liebe.“

Sie wünschten sich einen Sohn: sie erhielten die Mutter des Herrn.

Die Worte des Buches der Weisheit scheinen für sie geschrieben worden zu sein: „Durch sie werde ich Ruhm ernten vor dem Volk . . .

durch sie werde ich Unsterblichkeit erlangen und hinterlassen ewiges Gedenken meiner bei jenen, die nach mir kommen werden“

[Weish 8,13]. Um all das zu erlangen, mussten sie aber zu Königen einer wahren und dauerhaften Tugend werden, die kein Ereignis verletzen kann. Tugend des Glaubens, Tugend der Liebe, Tugend der Hoffnung, Tugend der Keuschheit.

Die Keuschheit der Gatten! Sie besaßen sie, denn um keusch zu sein, bedarf es nicht der Jungfernschaft. Auch das keusche Brautgemach hat seinen Schutzengel, der für eine gute Nachkommenschaft sorgt, für die die Tugend der Eltern eine Richtlinie im Leben bildet.

Was ist aber aus ihr geworden? Heute wünscht man weder Kinder noch Keuschheit. Daher sage ich, die Liebe und das Brautgemach sind entweiht worden.«

5 Mit einem Lobgesang verkündete Anna ihre Mutterschaft

Ich sehe wieder das Haus von Joachim und Anna. Im Innern hat sich nichts verändert, wenn man von den zahlreichen, blühenden Zweigen absieht, die hier und dort Vasen füllen und sicherlich von den Obstbäumen im Garten kommen, die jetzt alle in Blüte stehen: eine Wolke, deren Farbe vom Weiß des Schnees ins Rot gewisser Korallen übergeht.

Auch die Arbeit Annas ist nicht mehr die gleiche. An einem Webstuhl, der viel kleiner ist als der frühere, webt sie schöne Linnentücher und singt im Rhythmus der Bewegung ihrer Füße einen Lobgesang.

Sie singt und lächelt . . . Für wen? Für sich selbst, für etwas, dass sie in ihrem Innern sieht. Der Gesang ist langsam und doch freudig.

Ich habe ihn niedergeschrieben, stückweise, denn sie wiederholt ihn mehrmals, als schöpfe sie daraus Seligkeit. Immer stärker und sicherer wird ihr Gesang, wie der eines Menschen, der einen Rhythmus in seinem Herzen gefunden hat und ihn erst nur leise vor sich hersagt, dann aber mit zunehmender Sicherheit den Ton erhöht und schneller wird. Ich schreibe ihn nieder, denn er ist sehr lieblich in seiner Schlichtheit.

»Ehre sei dem Vater, dem Allmächtigen, der von den Söhnen Davids Liebe erntet. Ehre sei dem Vater!

Hohe Gnade hat mich heimgesucht vom Himmel her.

Der alte Baum gibt einen neuen Sproß, der mich beglückt.

Am Fest der Lichter warf die Hoffnung ihren Samen: nun sieht der Blütenduft des Nisans ihn keimen.

Wie der Mandelbaum erblüht mein Fleisch zur Frühlingszeit.

Es fühlt, dass seine Frucht erscheinen wird, zur Abendzeit.

Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf, hell leuchtet er am Himmel; ein junges, unschuldiges Leben ist uns gegeben.

Die Freude des Hauses, des Gatten und der Gattin.

Lob sei dem Herrn, ja meinem Herrn, der Erbarmen mit mir hatte!

Sein Licht hat mir verkündet: Ein Stern wird zu dir kommen.

Ehre, Ehre sei Dir! Dein wird die Frucht der Pflanze sein.

Die erste und letzte, heilige und reine, die ein Geschenk des Herrn ist.

Dein soll sie sein, und durch sie wird Freude und Frieden auf Erden kommen.

Webschiffchen, flieg! Der Faden soll zu Windeln fürs Kindlein werden.

Es wird geboren werden! Gott preisend steige empor meines Herzens Jubel!«

Joachim tritt ein, während sie dabei ist, ihren Gesang zum dritten Mal zu wiederholen. »Bist du glücklich, Anna? Du bist wie ein Vöglein an einem Frühlingsmorgen. Welch ein Gesang mag das wohl sein? Nie habe ich ihn von jemandem gehört. Woher kommt er uns?«

»Aus meinem Herzen, Joachim.« Anna hat sich erhoben und geht ihrem Gatten voll lachender Freude entgegen. Sie sieht jünger und schöner aus.

»Als Poetin habe ich dich noch nicht gekannt«, sagt ihr Gemahl und schaut sie mit offensichtlicher Bewunderung an. Sie scheinen nicht mehr ein bejahrtes Paar. In ihren Blicken liegt die Zartheit junger Verlobter.

»Ich kam aus dem Hintergrund des Gartens, da hörte ich dein Singen. Seit Jahren hörte ich dich nicht mehr mit der Stimme der verliebten Turteltaube singen. Willst du mir diesen Gesang noch einmal wiederholen?«

»Ich würde ihn dir wiederholen, auch wenn du mich nicht darum gebeten hättest. Die Kinder Israels haben stets dem Gesang den wahrsten Ausruf ihrer Hoffnung, ihrer Freude und ihres Schmerzes anvertraut. Auch ich will dir und mir mit dem Gesang eine große Freude kundtun. Ja, auch mir selbst, denn die Sache ist so groß, dass sie mir noch nicht wahr scheint, obwohl ich ihrer doch so sicher bin . . . « Und sie beginnt aufs neue zu singen. Als sie die Stelle erreicht: »Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf . . . « erfaßt ihre schöne Altstimme ein Zittern; sie stockt, schaut Joachim mit einem Freudenschluchzer an und ruft mit erhobenen Armen aus: »Ich bin Mutter!« Dann stürzt sie an sein Herz, in die Arme, die er ihr entgegengestreckt hat und mit denen er jetzt seine glückliche Gemahlin an sich drückt. Das war die keuscheste und seligste Umarmung, die ich je gesehen habe.

Keusch und doch glühend in ihrer Keuschheit. Dazu der sanfte Vorwurf, der in das graue Haar von Anna gesprochen wird: »Und du hast mir nichts davon gesagt!«

»Ja, ich wollte dessen gewiss sein . . . Alt wie ich bin . . . mich als Mutter zu wissen . . . Ich konnte es nicht glauben . . . Und ich wollte dir nicht die bitterste aller Enttäuschungen bereiten. Schon seit Ende Dezember fühle ich eine tiefe Veränderung in meinem Innersten, weil, wie gesagt, ein neuer Zweig sich bildet. Aber nun bin ich der Frucht auf diesem Zweig sicher . . . Siehst du, dieses Tuch ist schon für den kommenden Sprößling.«

»Ist das nicht der Flachs, dass du im Oktober in Jerusalem erworben hast?«

»Ja, und dieser Flachs habe ich gesponnen, während ich wartete . . .

und hoffte. Ich hoffte, denn als ich am letzten Tag im Tempel betete, solange eine Frau im Haus Gottes verweilen darf, und es war ja schon Abend . . . erinnerst du dich, dass ich da sagte: „Noch, noch ein wenig!“? Ich konnte mich von jener Stätte nicht trennen, ohne das bewusstsein, Gnade erlangt zu haben! Und sieh da: Im Schatten, der schon das Innere des heiligen Ortes erfüllte, den ich mit der ganzen Anziehungskraft der Seele betrachtete, um von dem gegenwärtigen Gott eine Zusage zu erhalten, sah ich ein Licht, einen Funken schönsten Lichtes. Es war weiß wie der Mond, hatte aber in sich das Leuchten aller Perlen und Edelsteine, die es auf Erden gibt.

Es schien, als ob einer der kostbarsten Sterne des Vorhangs, einer der Sterne unter den Füßen der Kerubim, sich loslöste und ein übernatürliches Licht ausstrahlte . . . Es schien, als ob jenseits des heiligen Vorhanges von der Herrlichkeit Gottes ein Feuer ausginge, auf mich zueilte und beim Durchdringen der Luft mit himmlischer Stimme sänge: „Das, worum du bittest, soll dir gegeben werden.“ Daher singe ich: „Ein Stern wird zu dir kommen.“ Welch ein Sohn wird der unsrige sein, der uns als Sternenlicht im Tempel geoffenbart wird und der am Fest der Lichter spricht: „Da bin ich.“ Mögest du richtig gesehen haben, als du mich für eine neue Hanna Elkana hieltest [1 Sam 1,9]. Wie werden wir unser Kind nennen, dass ich lieblich wie plätscherndes Wasser in meinem Schoß reden höre mit seinem kleinen Herzen, dass schlägt und schlägt wie jenes eines Turteltäubchens in der Höhlung der Hände?«

»Wenn es ein Knabe ist, so werden wir ihn Samuel nennen; ist es aber ein Mädchen, so geben wir ihm den Namen Stella (Stern).

Dieses Wort hat deinen Gesang beendet, als mir die Freude zuteil wurde, mich Vater zu wissen; dies ist die Gestalt, die es angenommen hat, um sich im heiligen Schatten des Tempels zu offenbaren.«

»Stern, unser Stern, denn ich weiß nicht, aber ich denke, es wird ein Mädchen sein. Es scheint mir, dass so sanfte Liebkosungen nur von einem allerliebsten Töchterchen kommen können. Denn nicht ich trage es; es bereitet mir keine Schmerzen. Sie ist es, die mich dahinträgt auf einem himmelblauen, blumenreichen Pfad, als ob ich getragen würde von heiligen Engeln und die Erde schon weit entfernt wäre. Ich habe immer von den Frauen gehört, dass das Empfangen und Schwangersein Schmerzen mit sich bringt. Aber ich fühle keinen Schmerz. Ich fühle mich stark, jung und frisch, mehr als damals, da ich dir in ferner Jugendzeit meine Jungfräulichkeit schenkte. Die Tochter Gottes – denn von Gott kommt sie mehr als von uns, da sie aus einem verdorrten Stamme sprießt – bereitet ihrer Mutter keine Pein; nur Frieden und Segen bringt sie ihr: die Geschenke Gottes, ihres wahren Vaters.«

»Dann werden wir sie Maria nennen, Stern unseres Meeres, Perle, unser Glück. Es ist der Name der ersten Frau [Ex 15,20–21; Num 12,1–15]. Aber diese wird nie sündigen gegen den Herrn, und ihn allein wird sie besingen, denn ihm ist sie geweiht: Opfer schon vor der Geburt.«

»Ja, ihm sei es angeboten, ob Knabe oder Mädchen. Wenn wir uns drei Jahre an unserem Kind erfreut haben, werden wir es dem Herrn schenken. Auch wir wollen zusammen mit ihm eine Opfergabe sein, zur Ehre Gottes.«

Weiteres sehe und höre ich nicht.

6 »Die Makellose war nie Gottes Gedenken bar«

Jesus spricht:

»Die Weisheit Gottes erleuchtete sie in den nächtlichen Träumen, stieg als „Hauch der Gotteskraft in sie herab, als Ausstrahlung der Herrlichkeit des Allmächtigen“ [Weish 7,25], und wurde für die Unfruchtbare Wort. Der, der die Zeit der Erlösung herannahen sah, Ich, Christus, der Enkel Annas, wirkte etwa fünfzig Jahre später durch das Wort Wunder an den Unfruchtbaren, den Kranken, den Besessenen, den Trostlosen und an allen Elenden der Erde.

Inzwischen aber flüsterte ich, in der Freude, eine Mutter zu haben, geheimnisvolle Worte im Schatten des Tempels, der die Hoffnungen Israels barg; des Tempels an der Grenze seines Daseins; denn der neue und wahre Tempel, der nicht mehr die Hoffnungen eines Volkes, sondern die ewige gewissheit des Paradieses für das Volk der ganzen Erde darstellt, sollte in Bälde errichtet werden. Und dieses Wort wirkt das Wunder und macht fruchtbar, was unfruchtbar war; es gibt mir eine Mutter, die nicht nur als Tochter zweier Heiliger eine vollkommene Natur hat, die nicht nur wie viele andere ein edles Herz besitzt, die nicht nur durch ihren guten Willen beständig an Güte zunimmt und nicht nur einen unbefleckten Körper hat, sondern auch als einzige unter den Geschöpfen eine unbefleckte Seele.

Du hast in deinem Leben viele aufeinanderfolgende Generationen der Kinder Gottes gesehen. Nun erwäge, wie schön die Seele gewesen sein muss, die der Vater mit Wohlgefallen anschaute, noch bevor die Zeit begann; diese Seele, die die Freude der Allerheiligsten Dreifaltigkeit war, die gleichsam darauf brannte, sie mit ihren Gaben auszustatten, um sich selbst damit zu beschenken. O du vollkommen Heilige, die Gott für sich und das Heil der Welt erschuf! Du Trägerin des Erlösers, du Anfang unseres Heiles! Lebendiges Paradies, du hast mit deinem Lächeln begonnen, die Erde zu heiligen.

O Seele, geschaffen, die Seele der Mutter Gottes zu sein! Als aus einem lebendigeren Herzschlag der dreifaltigen Liebe dieser lebendige Funke entsprang, jubelten die Engel; denn helleres Licht hatte das Paradies nie erblickt . . . Wie ein himmlisches Rosenblatt, ein geistiges, kostbares Blütenblatt, dass zugleich Perle und Flamme, dass der Hauch Gottes war, der herabstieg, ein Fleisch zu beleben, gar verschieden von den übrigen Menschen – wie ein mächtiges Feuer, dass keine Schuld aufkommen ließ, durcheilte er die Räume und schloß sich ein in einen heiligen Schoß.

Die Erde besaß die Blume, wußte es aber noch nicht; die wahre, einzige Blume, die in alle Ewigkeit blüht: Lilie und Rose, Veilchen und Jasmin, Zyklame und Sonnenblume, alle irdische Blumenschönheit in sich schließend: Maria, in der alle Tugenden und Gnaden sich vereinen. Im April glich Palästina einem großen Garten. Die Düfte und Farben entzückten das Herz der Menschen. Aber noch war die allerschönste Rose unbekannt. Schon blühte sie für Gott im geheimen Mutterschoß, denn meine Mutter liebte vom Augenblick ihrer Empfängnis an.1 Aber erst wenn die Weinrebe ihr Blut gibt, damit daraus Wein werde, und der Duft des Mostes, süß und stark, die Tenne und die Nasenflügel erfüllt, erst dann soll sie vor Gott und den Menschen lächeln und mit ihrem unschuldigen Lächeln sagen: „Seht die Rebe, die euch die Traube geben wird, die, gepreßt in der Kelter, ewige Medizin gegen eure Übel sein wird – nun ist sie bei euch.“

Ich habe gesagt: „Maria liebte, seit sie empfangen war.“ Was gibt dem Geist Licht und Erkenntnis? Die Gnade. Und was nimmt die Gnade hinweg? Die Erbsünde und die Todsünde.

Maria, die Makellose, entbehrte nie Gottes Gedenken, seine Nähe, seine Liebe, seine Weisheit, sein Licht. Daher war sie schon fähig zu verstehen und zu lieben, als sie noch ein Fleisch war, dass sich um eine unbefleckte Seele verdichtete, die beständig liebte.

Später werde ich dich im Geist die Tiefe der Jungfräulichkeit Marias schauen lassen. Es wird dir ein himmlisches Erschaudern verursachen, wie damals, als ich dir unsere Ewigkeit zu betrachten gab.

Inzwischen erwäge, wie die Mutter, die in ihrem Schoß ein Geschöpf trägt, dass frei von allen von Gott trennenden Makeln ist, selbst wenn sie nur natürlich, menschlich empfangen hat, eine höhere Erkenntnis erhält, die aus ihr eine Prophetin macht: Die Prophetin ihrer Tochter, die sie „Tochter Gottes“ nennt.

Und dann bedenke, was geschehen wäre, wenn von den unschuldigen Ureltern unschuldige Kinder geboren worden wären, wie Gott es wollte! Das, ihr Menschen, die ihr euch zum „Übermenschen“ entwickeln wollt, mit euren Lastern aber nur zum „Überdämon“ werdet, dass wäre das Mittel gewesen, ein „Übermenschentum“ zu erreichen.

Ihr wäret nicht vom Satan berührt worden und hättet Gott die Gestaltung des Lebens, der Erkenntnis und des Guten überlassen, ohne mehr zu verlangen, als Gott euch geben wollte (und es war um weniges weniger als das Unendliche). Ihr hättet in einer beständigen Entwicklung zum Vollkommenen Söhne gezeugt, die dem Leib nach Menschen und dem Geist nach Söhne der Weisheit gewesen wären, d. h. Sieger, Starke und Riesen gegenüber Satan, der zu Boden geschmettert worden wäre Tausende von Jahrhunderten vor der Stunde, in der es nun geschehen wird, und mit ihm all sein Böses.«

7 Geburt der Jungfrau Maria

Ich sehe Anna in den Blumen- und Gemüsegarten hinausgehen. Sie stützt sich auf den Arm einer Verwandten, wie mir scheint; denn die Frau sieht ihr sehr ähnlich. Sie ist hochschwanger und offenbar sehr müde; vielleicht auch wegen der Schwüle, die sehr jener gleicht, die mich umgibt.

Obwohl der Garten schattig ist, ist die Luft doch glühend heiß, ja erdrückend. Eine Luft, die man zerschneiden könnte wie einen weichen Teig, so dicht scheint sie zu sein unter dem erbarmungslos blauen Himmel. Es muss schon seit längerer Zeit nicht mehr geregnet haben, denn die Erde ist dort, wo sie nicht bewässert wird, buchstäblich zu feinstem, fast weißem Staub geworden. Das Weiß neigt leicht zu einem schmutzigen Rosa, während der Boden dort, wo er bewässert wird, dunkelbraun bis rot ist; so am Fuß der Bäume, längs der kleinen Beete, auf denen reihenweise Gemüse wächst, und um die Rosenstöcke, den Jasmin und andere Blumen und Blümchen, die es besonders vorne gibt und entlang der schönen Laube, die den Gemüsegarten in zwei Teile teilt, bis zum Beginn der Felder, deren Hafer schon geerntet worden ist. Auch das Gras am Rand des Besitztums ist trocken und spärlich. Nur am äußersten Ende, dort wo sich eine Hecke aus wildem Weißdorn befindet, der schon fast ganz der Rubine seiner kleinen Früchte beraubt ist, dort ist das Gras grüner und dichter, und dort weiden, bewacht von einem Hirtenknaben, einige Schafe auf der Suche nach Futter und Schatten.

Joachim macht sich an den Beeten und an den Olivenbäumen zu schaffen. Er hat zwei Männer um sich, die ihm helfen. Wenn er auch schon alt ist, so ist er dennoch flink und arbeitet mit Freude. Sie öffnen kleine Dämme an den Grenzen eines Feldes, um den durstigen Bäumen Wasser zuzuleiten. Und das Wasser bahnt sich einen Weg, plätschert zwischen Kräutern und trockener Erde dahin und breitet sich in den Wendungen aus, die für einen Augenblick gelbes Kristall zu sein scheinen, dann aber zu dunklen Rinnen feuchter Erde werden, rings um die Rebstöcke und die schwerbeladenen Olivenbäume.

Langsam geht Anna durch die schattige Laube, unter der goldgelbe Bienen gierig nach dem Saft der blonden Beeren fliegen, auf Joachim zu, der ihr, sobald er ihrer ansichtig wird, entgegeneilt.

»Bis hierher bist du gekommen?«

»Das Haus ist heiß wie ein Ofen.«

»Und du leidest darunter.«

»Das Leiden der letzten Stunden einer Schwangeren. Es ist das Leiden aller: Menschen und Tiere. Erhitze dich nicht zu sehr, Joachim!

«

»Der so lange erwartete Regen, der seit drei Tagen schon nahe scheint, ist noch nicht gekommen, und die Flur verbrennt. Es ist gut für uns, dass die Quelle so nahe ist, und so reich an Wasser. Ich habe die Kanäle geöffnet. Eine kleine Erleichterung für die Bäume mit ihren welken und staubbedeckten Blättern; aber genug, um sie am Leben zu erhalten. Wenn es nur regnete! . . . « Joachim blickt mit der Sorge des Landwirts forschend zum Himmel auf, während Anna sich müde Luft zufächelt mit einem getrockneten Palmblatt, dass von vielfarbigen Fäden, die es steif halten, durchflochten ist.

Die Verwandte sagt: »Dort, jenseits des hohen Hermon steigen schnell dahinziehende Wolken auf. Nordwind; er bringt Frische und vielleicht etwas Regen.«

»Seit drei Tagen weht er so; aber dann läßt er beim Aufgehen des Mondes wieder nach. So wird es auch heute sein«, sagt Joachim entmutigt.

»Kehren wir ins Haus zurück. Auch hier kann man nicht atmen . . . « sagt Anna, die aufgrund einer Blässe, die ihr Gesicht befallen hat, olivenfarbiger als gewöhnlich erscheint.

»Hast du Schmerzen?«

»Nein. Ich fühle den großen Frieden, den ich im Tempel empfunden habe, als ich Erhörung fand; ich habe ihn auch gefühlt, als ich wußte, dass ich Mutter werde. Es ist wie eine Ekstase. Ein sanfter Schlaf des Körpers, während der Geist aufjubelt und in einem Frieden schwelgt, für den es auf menschlicher Ebene keinen Vergleich gibt. Ich habe dich lieb, Joachim, und als ich in dein Haus einzog und mir sagte: „Ich bin die Braut eines Gerechten“, hatte ich ein Gefühl des Friedens und ebenfalls, sooft deine tätige Liebe sich um deine Anna sorgte. Aber der jetzige Friede ist von anderer Art. Schau: ich glaube, dass es ein Friede ist, wie der sich ölartig ausbreitende und lindernde Friede, den der Geist Jakobs, unseres Vaters, nach seinem Traumgesicht von den Engeln empfand [Gen 28,12]; oder besser noch: er ähnelt dem freudigen Frieden der beiden Tobias, nachdem Rafael sich ihnen geoffenbart hatte [Tob 12]. Je mehr ich mich in ihn vertiefe und ihn genieße, um so mehr wächst er. Es ist, als erhöbe ich mich in die blauen Räume des Himmels . . . Ich weiß nicht warum, aber seit ich in mir diese friedliche Freude habe, vernehme ich einen Gesang in meinem Herzen: den des alten Tobias [Tob 13,1–13].

Mir ist, als sei er für diese Stunde geschrieben worden . . . für diese Freude . . . für das Land Israel, dem sie zuteil wird . . . für Jerusalem, die Sünderin, der nun verziehen wird . . . aber . . . lächelt nur über das irre Reden einer Mutter . . . aber wenn ich sage: „Danke dem Herrn für seine Wohltaten und preise den Herrn, den Ewigen, damit er in dir sein Zelt wieder erbaue!“, dann denke ich, dass der, der in Jerusalem das Zelt des wahren Gottes wieder erbauen wird, dass Geschöpf ist, dass bald geboren wird . . . Ich meine auch, dass nicht so sehr von der heiligen Stadt als vielmehr von meinem Kind das Schicksal vorausverkündet wird, wenn es im Lobgesang heißt: „Du wirst in hellem Licht erstrahlen, alle Völker der Erde werden sich vor dir niederwerfen, die Nationen werden zu dir kommen und dir Geschenke bringen, sie werden in dir den Herrn anbeten und dein Land heilig heißen; denn in dir werden sie den Großen Namen anrufen.

Du wirst glücklich sein in deinen Söhnen, denn alle werden gesegnet sein und sich um den Herrn versammeln. Selig, die dich lieben und sich an deinem Frieden erfreuen! . . . „ Und die erste, die sich freut, bin ich selbst, die selige Mutter . . . «

Anna entflammt sich bei diesen Worten und wechselt mehrmals Farbe wie ein Wesen, dass aus dem Mondlicht zu einem großen Feuer getragen wird und umgekehrt. Sanfte Tränen rollen ihr über die Wangen herab; sie beachtet sie nicht in ihrer Freude. Inzwischen kehrt sie zwischen dem Gemahl und ihrer Verwandten, die beide bewegt schweigen und lauschen, zum Haus zurück.

Sie beeilen sich, denn die Wolken, die von einem starken Wind getrieben werden, kommen rasch näher und breiten sich am Himmel aus, und die Ebene wird dunkel und erschaudert in der Ankündigung des Gewitters. Als sie an der Schwelle des Hauses ankommen, durchfurcht ein erster hellzuckender Blitz den Himmel, und das Grollen des Donners ertönt wie das Schmettern einer riesigen Pauke, dass sich in das Trommeln der ersten Tropfen auf die dürren Blätter mischt.

Alle treten ein, und Anna zieht sich zurück, während Joachim, von seinen Helfern eingeholt, an der Türe über den so lange erwarteten Regen zu sprechen beginnt, der ein wahrer Segen für das durstige Land ist. Aber die Freude verwandelt sich in Furcht, denn es kommt ein heftiges Unwetter mit Blitzen und hagelbeladenen Wolken.

»Wenn die Wolke platzt, werden die Weinstöcke und die Olivenbäume wie im Mörser zerstampft. Wir Ärmsten!«

Noch eine andere Angst befällt Joachim: für seine Gattin ist die Stunde gekommen, da ihr Kind das Licht derWelt erblicken soll. Die Verwandte versichert ihm, dass Anna tatsächlich nicht leidet. Aber er bleibt unruhig, und jedes Mal, wenn die Verwandte oder andere Frauen, unter denen sich auch die Mutter des Alphäus befindet, aus der Kammer Annas herauskommen und mit warmem Wasser, Decken und Linnen, die sie am hellflackernden Feuer der geräumigen Küche erwärmt haben, dorthin zurückkehren, geht er hin und erkundigt sich, läßt sich aber durch ihre Versicherungen nicht beruhigen.

Auch das Fehlen von Schmerzensschreien macht ihm Sorge.

Er sagt: »Ich bin ein Mann und habe nie eine Geburt gesehen; aber ich erinnere mich gehört zu haben, dass das Fehlen von Geburtswehen verhängnisvoll ist.«

Die Nacht bricht infolge des außergewöhnlich heftigen Gewitters verfrüht herein. Wassergüsse, Winde, Blitze, alles stellt sich ein; doch nicht der Hagel, der sich anderswo entladen hat.

Einer der Burschen weist auf die Heftigkeit des Gewitters hin und bemerkt: »Es scheint, dass Satan mit all seinen Dämonen aus der Hölle herausgekommen ist. Schau, welch schwarze Wolken! Riechst du, welch ein Schwefelgeruch in der Luft liegt und hörst du das Pfeifen und Zischen, die Klagestimmen und die Flüche? Wenn er es ist, dann rast er heute abend ganz schön!«

Der andere Bursche lacht und sagt: »Es muss ihm eine große Beute entgangen sein, oder Michael hat ihn mit einem neuen Blitz Gottes getroffen und ihm Hörner und Schwanz abgeschnitten und verbrannt.

«

Eine Frau kommt und ruft: »Joachim, sie hat gerade geboren! Alles ging schnell und glücklich vonstatten!« Und sie verschwindet wieder mit einem Krüglein in der Hand.

Das Unwetter bricht in sich zusammen nach einem lauten und so heftigen Blitzschlag, dass es die drei Männer gegen die Wand wirft und an der Frontseite des Hauses im Boden des Gartens zur Erinnerung ein schwarzes, rauchendes Loch bleibt. Während im Zimmer Annas ein Wimmern hörbar wird, dass dem Klagen eines Turteltäubchens gleicht, dass zum ersten Mal nicht mehr piepst, sondern gurrt, breitet ein gewaltiger Regenbogen seinen Halbkreis über die ganze Breite des Himmels aus. Er steigt auf oder scheint wenigstens aufzusteigen von der Höhe des Hermon aus, der, von einem Sonnenstrahl geküßt, wie ein Alabasterblock in zartestem Rosaweiß leuchtet und sich in den klaren Septemberhimmel erhebt. Dann durchzieht der Farbenbogen die von aller Unreinheit gesäuberten Himmelsräume, überfliegt die Hügel von Galiläa und die Ebene, die im Süden zwischen zwei Feigenbäumen sichtbar wird, dann noch einen anderen Berg und scheint sich am äußersten Horizont niederzulassen, dort, wo eine graue Gebirgskette jede weitere Aussicht versperrt.

»Ein nie gesehenes Schauspiel!«

»Schaut, schaut!«

»Es scheint, als werde ganz Israel in einen Kreis zusammengeschlossen . . . und nun schaut! . . . da erscheint ein Stern, während die Sonne noch nicht verschwunden ist. Welch ein Stern! Er leuchtet wie ein gewaltiger Diamant! . . . «

»Und der Mond dort, ein Vollmond, obwohl noch drei Tage bis dahin fehlen. Aber seht, wie er strahlt!«

Die Frauen kommen in festlicher Freude herbei, mit einem rosigen Kindlein in weißem Linnen.

Es ist Maria, die Mutter! Eine ganz kleine Maria, so klein, dass sie in den Armen eines Kindes schlafen könnte; eine Maria, nicht länger als ein Vorderarm, dass Köpfchen wie aus leicht rosa gefärbtem Elfenbein und die winzigen Lippen, die nun nicht mehr weinen, karminrot; sie machen fast unmerkliche saugende Bewegungen, aber man kann sich kaum vorstellen, dass sie an der Mutterbrust saugen werden können. Das Näschen zwischen den beiden runden Bäckchen ist winzig, und wenn man es sachte berührt, dann öffnen sich die Äuglein und lassen durch zwei unschuldige, blaue Pünktchen zwei Stückchen Himmel sehen. Die Äuglein unter den blonden Wimpern schauen, ohne zu sehen. Auf dem runden Köpfchen bilden rötlichblonde Härchen einen zarten Flaum, der die Farbe eines gewissen, beinahe weißen Honigs hat. Die durchsichtigen Öhrchen gleichen zwei rosafarbenen Müschelchen. Und die Händchen, was sind das für winzige Dinge, die sich in die Luft heben und dann nach dem kleinen Mund greifen! Geschlossen, wie sie jetzt sind, gleichen sie zwei Knospen, die das Grün des Kelches abgestreift haben und am Aufbrechen sind . . . und nun, geöffnet . . . gleichen sie zwei Kameen aus rötlich angehauchtem Elfenbein. Die kleinen Händchen aus rosaschimmerndem Alabaster, mit fünf bleichen Granatplättchen als Fingernägel . . . wie können solche Händchen ein Meer von Tränen trocknen?

Und sieh, nun ist sie wieder in den Windeln und auf den Armen des irdischen Vaters, dem sie ähnelt. Eigentlich noch nicht. Vorerst ist sie nur der Entwurf eines Menschenkindes. Ich meine, dass sie ihm als Frau gleichen wird. Von der Mutter hat sie nichts. Vom Vater die Farbe der Haut und der Augen und sicher auch der Haare; denn wenn diese jetzt auch weiß sind, in der Jugend waren sie sicherlich blond, wie die Augenbrauen es bezeugen. Vom Vater hat sie auch die Gesichtsform, die aber feiner ausgearbeitet ist, da sie Frau und erhabene Frau ist; außerdem das Lächeln und den Blick, die Art und Weise, sich zu bewegen, und die Statur. Wenn ich an Jesus denke, wie ich ihn sehe, finde ich, dass Anna ihrem Enkelkind die Statur gegeben hat und die mehr elfenbeinartige Farbe der Haut.

Maria besitzt nicht die imponierende Gestalt Annas, dieser hohen, geschmeidigen Palme, wohl aber die Anmut des Vaters.

Die Frauen sprechen noch vom Gewitter und von dem Wunder des Mondes, des Sternes, des ungeheuren Regenbogens, während sie mit Joachim hineingehen zur glücklichen Mutter und ihr das Kindlein wiederbringen.

Anna lächelt in Gedanken und spricht: »Sie ist der Stern. Ihr Zeichen ist am Himmel erschienen. Maria, der Regenbogen des Friedens!

Maria, mein Stern, Maria, strahlender Mond! Maria, unsere Perle!«

»Maria nennst du sie?«

»Ja, Maria, Stern und Perle, Licht und Frieden . . . «

»Aber dieser Name bedeutet auch Bitterkeit . . . Fürchtest du nicht, dass er ihr Unheil bringen könnte?«

»Gott ist mit ihr. Sie gehörte ihm, schon bevor sie lebte. Er wird sie führen auf ihren Wegen, und jede Bitterkeit wird sich in paradiesische Süße verwandeln. Jetzt gehöre deiner Mutter . . . noch ein wenig, bevor du ganz Gottes sein wirst . . .!«

Die Vision endet mit dem ersten Schlaf der Mutter Anna zusammen mit ihrem Kind Maria.

8 »Ihre Seele erscheint schön und unbefleckt, wie der Vater sie ersann!«

Jesus spricht:

»Steh auf und beeile dich, kleine Freundin! Ich habe ein brennendes Verlangen, dich mit mir in das paradiesische Blau der Betrachtung der Jungfräulichkeit Marias zu führen. Du wirst daraus hervorgehen mit frischer Seele, als wärest du soeben vom Vater erschaffen worden; eine kleine Eva, die das Fleisch noch nicht kennt. Du wirst daraus hervorgehen mit einem Geist voller Licht und betrachtend dich versenken in das Meisterwerk Gottes. Du wirst daraus hervorgehen mit deinem ganzen Sein, überfließend von Liebe: denn du wirst begreifen, wie groß die Liebe Gottes ist. Von der Empfängnis Marias, der Makellosen, sprechen will heißen: untertauchen im Himmelsblau, im Licht, in der Liebe. Komm und lies ihre Herrlichkeiten im Buch des Vorfahren!

„Der Herr schuf mich, seines Waltens Erstling, als Anfang seiner Werke, vorlängst. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt. Noch ehe die Meere waren, ward ich geboren, noch vor den Quellen, reich an Wasser. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln ward ich geboren, ehe er die Erde gemacht und die Fluren und die ersten Schollen des Erdreichs. Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er das Gewölbe absteckte über der Urflut, als er die Wolken droben befestigte und die Quellen der Urflut stark machte, als er dem Meer seine Schranke setzte, dass die Wasser seinem Befehle gehorchten, als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als Liebling ihm zur Seite, war lauter Entzücken Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit, spielte auf seinem Erdenrund und hatte mein Ergötzen an den Menschenkindern.“

[Spr 8,22–31]

Ihr habt diese Worte auf die Weisheit bezogen, aber sie sprechen von ihr: der schönen Mutter, der heiligen Mutter, der jungfräulichen Mutter der Weisheit, die ich bin, der ich mit dir rede. Ich wollte, dass du den ersten Vers dieses Hymnus, der von ihr spricht, an den Anfang des Buches setztest, damit man erkennt und anerkennt, dass sie der Trost und der Ruhm Gottes, die Ursache der beständigen, vollkommenen und innigen Freude dieses Dreieinigen Gottes ist, der euch regiert und liebt und dem der Mensch so viel Anlaß zur Traurigkeit gibt; sie ist der Grund, weshalb er das Menschengeschlecht weiter bestehen ließ, damals, als es nach der ersten Prüfung verdiente, vernichtet zu werden; sie ist der Grund der Vergebung, die ihr erhalten habt.

Maria haben, um von ihr geliebt zu werden! Oh, es lohnte sich, den Menschen zu erschaffen, ihn leben zu lassen und ihm zu verzeihen, um die schöne Jungfrau, die heilige Jungfrau, die unbefleckte Jungfrau, die von der Liebe erfüllte Jungfrau, die geliebte Tochter, die reinste Mutter, die zärtliche Braut zu besitzen! So viel hat Gott und noch viel mehr hätte er euch gegeben, nur um das Geschöpf seines Entzückens, die Sonne seiner Sonne, die Blume seines Gartens zu besitzen. Und immer wieder fährt er fort, euch ihretwegen zu beschenken, auf ihre Bitten hin, zu ihrer Freude, weil ihre Freude sich vereinigt mit der Freude Gottes und sie erhöht mit dem funkelnden Glanz, der das große Licht des Paradieses erfüllt; und jedes Funkeln ist ein Geschenk an das Universum, an das Menschengeschlecht, ja an die Seligen selbst, die mit einem jauchzenden Halleluja auf jedes göttliche Wunder antworten, dass gewirkt wird durch den Wunsch des Dreieinigen Gottes, dass strahlende Lächeln der Jungfrau zu sehen!

Gott wollte dem Universum, dass er aus dem Nichts erschaffen hatte, einen König geben; einen König, der das obersteWesen sein sollte unter allen aus der Materie erschaffenen und selbst materiellen Wesen; einen König, der etwas weniger als göttlich sein sollte in seiner geistigen Natur, vereinigt in seiner Unschuld mit der Gnade wie am ersten Tag. Doch der höchste Geist, der alles, was in den fernsten Zeiten geschieht, kennt; der unmittelbar alles weiß, was war, was ist und was sein wird; der, während er das Vergangene betrachtet und die Gegenwart beobachtet, seinen Blick auch auf die fernste Zukunft richtet; der weiß, welchen Todes der letzte Mensch sterben wird –

und das alles ohne Verwirrung und Unterbrechung – dieser höchste Geist wußte stets, dass der von ihm vorhergesehene und erschaffene König, der zu seiner Seite im Himmel halb-göttlich sein sollte, Erbe des Vaters, der nach der Kindheit seines irdischen Aufenthaltes als Erwachsener in sein Reich kommen sollte – der höchste Geist wußte stets und sah voraus, dass dieses Geschöpf gegen sich selbst das Verbrechen, die Gnade in sich zu töten und sich des Himmels zu berauben, begehen würde.Warum hat er ihn dennoch erschaffen? gewiss stellen sich viele diese Frage. Hättet ihr es vorgezogen, nicht zu sein? Verdient dieser Erdentag es nicht, obwohl er arm und bloß und rauh geworden ist infolge eurer Bosheit, gelebt zu werden, um das von Gotteshand ins Universum gestreute unendliche Schöne kennenzulernen und zu bewundern?

Für wen hätte er die Sterne und Planeten erschaffen, die wie Blitze und Pfeile vorüberzucken und das Gewölbe des Firmaments durchfurchen; die langsam zu sein scheinen und doch schneller als die schnellsten Geschosse ihre Bahnen ziehen; die euch Licht und die Jahreszeiten schenken; die euch beständig, unveränderlich und doch stets ihre Lage verändernd, neue Seiten im Himmelsblau zu lesen geben, jeden Abend, jeden Monat, jedes Jahr? Als wollten sie euch sagen: „Vergeßt eure Beschränktheit, laßt alle eure geschriebenen Werke beiseite, die angefüllt sind mit dunklen, faulenden, schmutzigen, giftigen, lügenhaften, gotteslästerlichen, verdorbenen Dingen!

Erhebt euch wenigstens mit dem Blick in die unbegrenzte Freiheit der Firmamente! Laßt eure Seele himmelblau werden im Betrachten dieser Herrlichkeit! Schafft euch einen Vorrat an Licht, um eure Finsternis zu erhellen! Lest das Wort, dass wir beim Gesang unseres Sternenchors ins Firmament schreiben! Es ist harmonischer als jedes Orgelstück in den Kathedralen: das Wort, dass wir leuchtend geschrieben haben: das Wort, dass wir voller Liebe geschrieben haben; denn immer ist uns jener gegenwärtig, der uns die Freude des Seins schenkte, und wir danken ihm, uns das Dasein geschenkt zu haben, dass Licht, dass Leben, dass Frei-Sein und das Schön-Sein inmitten der erquickenden Bläue, über die hinaus wir noch ein erhabeneres Blau sehen: das Paradies, und erfüllen den zweiten Teil seines Liebesgebotes, indem wir euch, unseren Nächsten im Universum, lieben; wir lieben euch und geben euch darum Führung und Licht, Wärme und Schönheit. Vernehmt das Wort, dass wir euch sagen und dem gemäß wir unsere Melodie, unser Strahlen und unsere Freude ausrichten: Gott!“

Für wen sonst hätte Gott das flüssige Blau gemacht, in dem sich der Himmel spiegelt, auf dem ihr dahinfahrt, in dem das Wasser lächelt und die Wellen sprechen? Alles Worte, die mit dem Rauschen der Seide, mit dem heiteren Lachen der Kinder, mit dem Seufzen der Alten und den Schlägen, den Stößen, dem Brüllen und dem Donnern der Gewalt immer wieder reden und sagen: „Gott“. Das Meer wurde für euch erschaffen, ebenso wie der Himmel und die Sterne. Und mit dem Meer die Seen, die Flüsse, die Teiche, die Bäche und die reinen Quellen, die alle dazu dienen, euch zu tragen, euch zu nähren, euren Durst zu stillen und euch zu reinigen. Sie dienen euch, indem sie dem Schöpfer dienen, ohne über die Ufer zu treten und euch zu überfluten, wie ihr es verdientet.

Für wen sonst hätte er die unzähligen Familien der Tiere geschaffen, die wie singende Blumen fliegen (Vögel), die als eure Knechte laufen, arbeiten, euch nähren und euch erfreuen: euch, ihre Könige?

Für wen sonst hätte er all die zahllosen Familien der Bäume und Pflanzen erschaffen und die Blumen, die aussehen wie Schmetterlinge, Edelsteine und regungslose Vöglein; die Familien der Früchte, die wie Juwelen oder Perlenschreine sind, die euch als Teppiche für eure Füße, zum Schutz eurer Häupter, zur Zerstreuung, zur Freude für euren Geist, eure Glieder, eure Augen und die andren Sinne dienen?

Für wen anders hätte er die Mineralien in der Erde gemacht und die Salze aufgelöst in eiskalten oder heißkochenden Quellen: Schwefel, Jod und Brom, als für einen, der sich daran ergötze, der nicht Gott, aber Kind Gottes ist: für den Menschen.

Zu seiner Freude benötigte Gott sie nicht; er hat keine Bedürfnisse.

Er genügt sich selbst. Er braucht sich nur zu betrachten, um sich zu ergötzen und zu ernähren, um zu leben und zu ruhen. Die ganze Schöpfung hat die Unendlichkeit seiner Freude, seiner Schönheit, seines Lebens und seiner Macht nicht im geringsten erhöht. Vielmehr hat er alles für sein Geschöpf gemacht, dass er zum König über das von ihm geschaffene Werk setzen wollte: den Menschen.

Es lohnt sich zu leben, um dieses großartige Werk Gottes zu schauen und ihm zu danken für seine Machtentfaltung. Ihr müßt ihm dankbar sein dafür, dass ihr lebt. Und ihr hättet es sein müssen, auch wenn er euch erst am Ende der Welt erlöst hätte; denn, obwohl eure Vorfahren die Gebote nicht befolgt haben und hochmütig, genußsüchtig und Mörder gewesen sind und auch ihr ebenso lebt, gestattet euch Gott immer noch, euch an dem Guten und dem Schönen im Universum zu erfreuen. Er behandelt euch, als ob ihr gute Menschen und gute Söhne wäret, denen alles gezeigt und zugestanden wird, um ihr Leben angenehmer und gesünder zu gestalten. Was ihr wißt, wißt ihr durch Gottes Licht. Was ihr entdeckt, entdeckt ihr auf einen Hinweis Gottes, soweit es gut ist. Die anderen Erkenntnisse und Erfindungen, die das Zeichen des Bösen tragen, kommen vom höchsten Bösen, vom Satan.

Der höchste Geist, dem nichts unbekannt bleibt, wußte schon vor der Erschaffung des Menschen, dass dieser aus eigenem Willen Dieb und Mörder geworden wäre. Da aber die ewige Güte Gottes ohne Grenzen ist, dachte Gott, noch bevor die Sünde begangen wurde, an ein Mittel, um die Schuld wiedergutzumachen. Das Mittel bin Ich, dass Wort. Das Werkzeug, um aus dem Mittel ein wirksames Instrument zu machen, war Maria. Die Jungfrau wurde im erhabenen Gedanken Gottes geschaffen. Alle Dinge sind geschaffen worden für mich, den geliebten Sohn des Vaters.

Als König hätte ich unter meinen Füßen Teppiche und Kleinodien haben müssen, wie kein Königspalast sie je gehabt hat; Lieder und Stimmen, Knechte und Diener hätten mich umgeben müssen, wie keinen Herrscher je zuvor, und Blumen und Perlen und alles Erhabene, Großartige und Liebliche, dass aus dem Gedanken Gottes entspringen kann. Aber ich sollte auch Fleisch sein, nicht nur Geist: Fleisch, um das Fleisch zu erlösen; Fleisch, um das Fleisch zu veredeln; um es in den Himmel zu tragen, viele Jahrhunderte vor der Zeit. Das vom Geist bewohnte Fleisch ist das Meisterwerk Gottes, und für dieses ist der Himmel erschaffen worden.

Um Fleisch zu werden, bedurfte ich einer Mutter. Um Gott zu sein, musste mein Vater Gott sein. Und sieh da, Gott schuf sich eine Braut und sagte zu ihr: „Folge mir! An meiner Seite wirst du sehen, was ich für unseren Sohn tue. Schau und juble, ewige Jungfrau, ewige Tochter. Dein Lachen erfülle dieses Reich, gebe den Engeln den Ton an und lehre das Paradies die himmlische Harmonie! Ich schaue auf dich. Ich sehe dich schon, wie du sein wirst, o unbefleckte Frau, die du jetzt nur Geist bist: Gedanke, an dem ich mein Wohlgefallen finde. Ich schaue auf dich und gebe das Blau deiner Augen dem Meer und dem Firmament; die Farbe deiner Haare dem heiligen Korn; das reine Weiß und das Rosa, die Farben deiner seidenen Haut, der Lilie und der Rose; als Vorbild für die Perlen nehme ich deine feingearbeiteten Zähne; die süßen Erdbeeren bilde ich mit einem Blick auf deinen Mund; den Nachtigallen lege ich deine Stimme in die Kehle und den Turteltauben dein Klagen. Und indem ich deine künftigen Gedanken lese und das Klopfen deines Herzens höre, habe ich ein Leitmotiv für meine Schöpfung. Komm, meine Freude, bewohne die Welten zum Zeitvertreib, solange du noch tanzendes Licht meines Gedankens bist. Die Welten sind da für dein Lachen. Bewohne die Kränze der Sterne und die Ketten der Gestirne. Lege dir den Mond unter deine edlen Füße und umgürte dich mit dem Sternengurt der Milchstraße! Für dich sind die Sterne und Planeten erschaffen worden.

Komm und erfreue dich an den Blumen, die deinem Kind zum Spielzeug und dem Sohn deines Schoßes zum Kissen dienen werden!

Komm und schau, wie ich die Lämmer bilde, die Adler und die Tauben! Sei mir nahe, während ich die Schalen der Meere und die Betten der Flüsse erschaffe, die Berge erhebe und sie bemale mit Schnee und Wäldern; während ich das Getreide säe und die Bäume und den Weinstock bilde: die Olivenbäume für dich, meine Friedensträgerin, und den Weinstock für dich, meine Rebe, die die eucharistische Traube tragen wird.

Eile, fliege, juble, meine Schöne, und lehre die ganze Welt, die von Stunde zu Stunde erschaffen wird, mich zu lieben, du Liebevolle; die Welt soll schöner werden durch dein Lächeln, o Mutter meines Sohnes, du Königin meines Paradieses, du Liebe deines Gottes!“

Und während ich den Irrtum sehe und zugleich die Makellose vor Augen habe, rufe ich aus: „Komm zu mir, die du die Bitterkeit des menschlichen Ungehorsams, der menschlichen Unzucht mit Satan und der menschlichen Undankbarkeit auslöschest, mit dir werde ich Vergeltung üben an Satan.“

Gott, der Vater und Schöpfer, hatte Mann und Frau mit einem so vollkommenen Gesetz der Liebe erschaffen, dass ihr diese Vollkommenheit nicht einmal mehr verstehen könnt. Und ihr denkt ohne Erfolg darüber nach, was wohl mit dem Menschengeschlecht geschehen wäre, wenn der Mensch nicht die Lehren Satans angenommen hätte.

Schaut auf die Frucht- und Samenpflanzen! Erhalten sie Samen und Frucht durch Unzucht, durch eine Befruchtung unter hundert Vereinigungen? Nein! Von der männlichen Blüte geht der Blütenstaub aus und geführt von einem Komplex meteoritischer und magnetischer Gesetze gelangt er zum Fruchtknoten der weiblichen Blüte. Dieser öffnet sich, nimmt ihn auf und bringt Frucht. Die weibliche Blüte beschmutzt sich nicht und weist ihn nicht ab, wie ihr es nur tut, um tags darauf wiederum dasselbe Lustgefühl kosten zu können.

Sie trägt Frucht; und bis zum nächsten Jahr bringt sie keine Blüte hervor, und wenn sie dann blüht, ist es wieder, um Frucht zu tragen.

Betrachtet die Tiere, alle! Habt ihr je ein männliches Tier gesehen, dass sich zum weiblichen begibt steriler Umarmung wegen und zu lasterhaftem Verkehr? Nein. Von nah und fern, fliegend und kriechend, springend und laufend, gehen sie, wenn es Zeit ist, zum Befruchtungsritus und entziehen sich ihm nicht, indem sie nur die Befriedigung ihrer Lust suchen; sie übernehmen ohne weiteres die ernste und heilige Verantwortung für die Nachkommenschaft. Diesen alleinigen Zweck muss der Mensch, der Gott ähnlich ist aufgrund des göttlichen Ursprungs einer Gnade, die ich ihm voll und gänzlich geschenkt habe, annehmen in der Ausübung des notwendigen animalischen Aktes, seit ihr um einen Grad in Richtung des Tierreiches herabgesunken seid.

Ihr handelt nicht wie die Pflanzen und die Tiere. Ihr habt Satan zum Lehrmeister gehabt. Ihr habt ihn zum Lehrmeister gewollt und wollt ihn immer noch. Und die Werke, die ihr vollführt, sind des Meisters würdig, den ihr gewollt habt. Aber wenn ihr Gott treu geblieben wäret, hättet ihr den Kindersegen in heiligerWeise erlebt, ohne Schmerzen und ohne euch in unanständigen, unwürdigen Vereinigungen zu entkräften, die selbst den Tieren unbekannt sind; den Tieren ohne vernünftige und geistige Seele.

Dem von Satan verdorbenen Paar wollte Gott den Menschen gegenüberstellen, geboren von einer von Gott über alles erhobenen Frau. Sie gebar, ohne einen Mann gekannt zu haben: Blume, die die Blume gebiert, ohne der natürlichen Befruchtung zu bedürfen, einzig durch den Kuß der Sonne auf den unangetasteten Kelch der Lilie: Maria.

Die Vergeltung Gottes!

Mache nur, Satan, deinem Haß Luft, während sie geboren wird!

Dieses Kind hat dich besiegt! Noch bevor du zum Rebellen wurdest, zum Schleicher, zum Verderber, warst du schon besiegt, und sie ist deine Besiegerin! Tausend zur Schlacht gerüstete Heere vermögen nichts gegen deine Macht. Die Waffen der Menschen vermögen nichts gegen deinen Panzer, o ewiger Verführer, und es gibt keinen Wind, der den Gestank deines Atems wegwehen könnte. Und dennoch: Diese Kindesferse, die rosig ist wie das Innere einer rötlichen Kamelie; die glatt und weich ist, dass die Seide rauh ist im Vergleich zu ihr; die so klein ist, dass sie in den Kelch einer Tulpe paßt und sich daraus Schühlein machen könnte; sieh, sie nähert sich dir ohne Furcht und sie wird dich in deine Höhle jagen. Ihr Klagen schlägt dich in die Flucht, dich, der du die Heere nicht fürchtest, und ihr Atem reinigt die Welt von deinem Gestank. Du bist besiegt!

Ihr Name, ihr Blick, ihre Reinheit sind Lanze, Blitz und Stein, die dich durchbohren, die dich niederschmettern, die dich einschließen in dein Höllenloch, o Verfluchter, der du Gott die Freude genommen hast, Vater aller erschaffenen Menschen zu sein!

Nun aber hast du sie vergebens verdorben, sie, die unschuldig erschaffen worden sind. Du hast sie verführt zur Vereinigung und Empfängnis auf den Irrwegen der Fleischeslust; du hast Gott daran gehindert, seinem geliebten Geschöpf der Spender von Kindern zu sein nach Regeln, die, wenn sie beachtet worden wären, auf Erden ein Gleichgewicht erhalten hätten unter den Geschlechtern und den Rassen, wodurch Kriege unter den Völkern und Zwietracht in den Familien vermieden worden wären.

Wenn sie gehorcht hätten, hätten sie die Liebe kennengelernt. Vielmehr: nur im Gehorsam hätten sie die wahre Liebe verstanden und erhalten: den vollen und ruhigen Besitz dieses Ausflusses Gottes, der vom Übernatürlichen herabkommt zum Niedrigeren, damit auch das Fleisch darob heilig jubiliere; das Fleisch, dass dem Geist verbunden ist und von demselben geschaffen wurde, der dem Fleisch eine Seele gegeben hat.

Eure Liebe, o Menschen, was ist sie jetzt? Entweder Sinnenlust, bemäntelt mit Liebe, oder unheilbare Furcht, die Liebe des Gatten zu verlieren durch eigene oder anderer Menschen Unzucht. Seit die Sinnenlust in der Welt herrscht, seid ihr nie sicher, dass Herz des Gemahls oder der Gemahlin zu besitzen. Ihr zittert, weint und werdet wahnsinnig vor Eifersucht; manchmal Mörder, um einen Verrat zu rächen; verzweifelt bisweilen, werdet willenlos in gewissen Fällen und wahnsinnig in anderen.

Das hast du, Satan, den Kindern Gottes angetan. Die, welche du ins Verderben gestürzt hast, hätten die Freude erlebt, Kinder ohne Schmerzen zu gebären, und die Freude, geboren zu werden ohne die Angst, sterben zu müssen. Jetzt bist du, Satan, durch eine Frau und in einer Frau besiegt. Von nun an wird jeder, der Sie liebt, zu Gott zurückfinden; er wird jeder deiner Versuchungen widerstehen und die volle Reinheit bewahren können. Von jetzt an werden die Mütter, die nicht ohne Schmerzen gebären können, Sie zur Helferin haben. Von jetzt an werden die Eheleute Sie als Führerin und die Sterbenden Sie als Mütter haben; denn der Tod wird süß in ihren Armen, die Schutz und Schild gegen dich, den Verfluchten, sind. Sie ist aber auch die Fürbitterin beim Gericht Gottes.

Maria Valtorta, du kleine Stimme, du hast die Geburt des Sohnes der Jungfrau und den Eingang seiner Mutter in den Himmel gesehen.

Du hast gesehen, dass den Schuldlosen weder Geburtswehen noch Todesschmerzen bekannt sind. Und so, wie der unbefleckten Mutter Gottes die himmlischen Gaben vorbehalten waren, so wären allen, wenn sie wie die ersten Kinder Gottes unschuldig geblieben wären, Geburtswehen und Todesangst erspart geblieben.

Der erhabene Sieg Gottes über Satans Rache bestand darin, die Vollkommenheit des erwählten Geschöpfes so zu steigern, dass wenigstens in Einer der Hauch jener menschlichen Schwäche, die dem Gift des Satans Einlaß verschafft, nichtig wurde; und somit sollte der Sohn nicht aus einer menschlichen Vereinigung, sondern aus der göttlichen Umarmung, die den Geist im Feuer der Ekstase verzückt, hervorgehen.

Die Jungfräulichkeit der Jungfrau! . . .

Komm und erwäge diese tiefe Jungfräulichkeit, bei deren Betrachtung sich schwindelerregende Abgründe eröffnen! Was ist die arme, erzwungene Jungfräulichkeit einer Frau, die von keinem Mann begehrt wurde? Weniger als nichts! Was ist die Jungfräulichkeit einer Frau, die um Gottes Willen ehelos bleibt, dies aber nur dem Leib und nicht dem Geist nach? Sie läßt viele zügellose, unreine Gedanken in ihren Geist eintreten, spielt mit diesen und läßt sich von menschlichen Vorstellungen liebkosen! Das ist nur ein Larvenstadium der Jungfräulichkeit. Was ist die Jungfräulichkeit einer Gottgeweihten, die nur für Gott lebt? Viel, doch ist sie nie so vollkommen wie die meiner Mutter!

Eine Bindung ist immer vorhanden gewesen, selbst beim Heiligsten: jene zwischen Geist und Schuld; jene, die nur die Taufe zu lösen vermag. Sie löst sie; doch wie eine Frau, die durch den Tod von ihrem Mann getrennt wird, nicht die ganze Jungfräulichkeit wiederfindet, so gibt die Taufe nicht diese vollkommene Jungfräulichkeit zurück, die unseren Stammeltern vor der Sünde zu eigen war. Eine Narbe bleibt und schmerzt und bringt das Frühere in Erinnerung, und die einstige Wunde ist stets bereit, wieder aufzubrechen, wie gewisse Krankheiten periodisch durch ihre Viren neu entfacht werden.

Die Jungfrau Maria hat diese Narbe einer aufgelösten Bindung mit der Schuld nicht. Ihre Seele erscheint schön und unberührt wie damals, als der Vater sie erdachte und in ihr alle Gnaden vereinigte.

Sie ist die Jungfrau. Sie ist die Einzige. Sie ist die Vollkommene. Sie ist, wie sie erdacht wurde. So wurde sie geboren. So ist sie geblieben.

So wurde sie gekrönt. So ist sie in Ewigkeit.

Sie ist die Jungfrau. Sie ist ein Abgrund der Unberührtheit, der Reinheit, der Gnade, der sich verliert im Abgrund, aus dem sie stammt: Gott. Unberührtheit, Reinheit, vollkommenste Gnade. Sieh, so rächt sich Gott, der Dreieinige. Gegen alle entheiligten Geschöpfe erhebt er diesen Stern der Vollkommenheit. Gegen die ungesunde Neugierde erhebt er diese heilige Scheu, die allein in der Liebe Gottes Befriedigung findet. Dem Wissen um das Böse stellt er diese erhabene Unwissende gegenüber. In ihr ist nicht nur Unkenntnis der niedrigen Liebe, nicht nur Unkenntnis der Liebe, die Gott den verehelichten Menschen gab, sondern noch mehr. In ihr ist Unkenntnis der bösen Neigungen, die Erbschaft der Sünde sind. In ihr ist gleichzeitig Kühle, Weisheit und weißglühende Gottesliebe. Ein Feuer, welches das Fleisch mit Eis panzert, damit es der durchsichtige Spiegel sei am Altar, wo Gott sich mit einer Jungfrau vermählt und sich dennoch nicht erniedrigt; denn seine Vollkommenheit umarmt jene, die, wie es einer Braut geziemt, nur in einem Punkt niedriger ist als der Bräutigam: Sie ist Ihm unterworfen als Frau, aber ohne Makel wie Er.«